Schöne bunte Welt: Was (noch) alles in uns steckt
Es war wie der lang ersehnte Ausbruch aus meiner bis dahin noch recht überschaubaren jugendlichen Welt, als ich, frisch der Pubertät entsprungen, im Alter von 16 Jahren mit Sack und Pack ans andere Ende dieser Welt flog, um ein Jahr lang den Alltag mit einer japanischen Familie im Land der aufgehenden Sonne und rosaroten Kirschblüten zu teilen.
Nur wenige Jahre zuvor war mein Heimatland, welches ich ebenso liebte wie es seine Menschen einschränkte – die DDR – unwiederbringlich von der politischen Landkarte verschwunden. Die Erinnerung an die beim Blick über die Berliner Mauer ins „unbekannte Land“ selbst als Kind empfundene Ohnmacht war in mir noch immer lebendig. Und so war es nun das Größte für mich, die Freiheit dieses neuen Lebens auf eine Weise entdecken zu dürfen, die – aus heutigen Augen betrachtet – für mich damals einer Abenteuerreise zum Mond glich.
Mit pochendem Herzen, einem schmalen Japanisch-Wörterbuch in der Tasche, und nicht mehr als einigen VHS-Vokabeln im Kopf saß ich also im Flieger, neugierig auf das was mich dort, wo die Menschen nach meinem stereotypen Kenntnisstand offenbar jeden Tag Unmengen Sushi aßen und Sake tranken, erwarten würde. Gleichzeitig machte sich zunehmend innere Aufregung breit - spätestens als ich, begleitet vom gütigen Blick meines beleibten japanischen Sitznachbars, unbeholfen und unter der besonderen Herausforderung leichter Turbulenzen in der Fluggastkabine, meine ersten kulinarischen Navigationsversuche mit Stäbchen & Co. absolvierte.
Wie wird es wohl werden da drüben im Land der Geishas, Mangas und Samurais? Diese Frage hatte ich mir in den vergangenen Monaten schon so oft gestellt. Gedankenverloren und überraschend zielsicher balancierte ich ein mariniertes Stück Teriyaki-Hühnchen in meinen Mund. Und fand auch jetzt keine Antwort auf meine Frage. Ich wusste nur: Es würde wohl irgendwie anders werden in Japan. Und es wurde anders. Deutlich anders. Wie Ihr auch auf dem Titelbild dieses Blogbeitrages unschwer erkennen könnt.
Zugegeben - einfach war es für meine stolze Teenager-Seele ganz und gar nicht, von nun an meine über alles geliebte Lederjacke sowie Jeans & Sneaker gegen eine nicht sonderlich vorteilhaft sitzende Schuluniform aus dunkelblauem Polyester einzutauschen. Aber es half alles nichts. Neben all den Dingen, denen ich monatelang mit wachsender Vorfreude entgegen geblickt hatte, gehörte auch das zum Abenteuer Fernost. Also sah ich mich von nun an allmorgendlich bei Wind und Wetter im Matrosenkostüm mit knielangem Faltenrock, weißen Stricksöckchen und schwarzen Lackschuhen beschaulich auf dem Drahtesel zur Schule radeln.
Dank der Klassikliebe der Japaner löste Ludwig van Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ meine zuvor in Deutschland so leidenschaftlich eingeübte Gitarrenversion von „Losing My Religion“ von R.E.M. ab, und im Kunstunterricht hieß es nun, den Kalligraphie-Pinsel zu schwingen sowie van Gogh ein Jahr lang einfach mal van Gogh sein zu lassen. Wilde Party-Abende mit Freunden wichen besinnlichen Teezeremonien und an die Stelle meines heiß geliebten Tanzunterrichtes traten Kendo-Training (welches ich mangels Talent und Begeisterung bald wieder aufgab) und Japanisch Pauken.
Und ich liebte dieses neue Leben auf Zeit. Ich liebte es, all das Unbekannte und Überraschende auszuprobieren. Neues anzunehmen und Altes zu verwerfen. Zu explorieren und zu experimentieren. Einen Tag Erfolge zu feiern und ein anderes Mal zu scheitern. Sowie zu beobachten, wie sich mein Blick auf diese schöne bunte Welt Stück für Stück weitete und zugleich konkretisierte.
Mir wurde erst sehr viel später klar, was all dies für mich bedeutete: Ich hatte mich nicht nur aufgemacht, die Freiheit des neuen Lebens zu entdecken und eine fremdes Land zu erkunden, sondern ein psychologisches Experiment gewagt: in meinem Bedürfnis nach dem Verstehen dessen, was in dieser für mich so neuen Welt anders war, wurde der gelebte Perspektivwechsel zum Mantra, das schrittweise Ablegen von Vorurteilen zum Rezept. Über das „experimentelle Tun“ erkannte ich schlussendlich: Ich war offenbar nicht nur die, die ich bis dahin glaubte ausschließlich zu sein.
Szenenwechsel: Zwanzig Jahre später finde ich mich zusammen mit fünfzehn weiteren Teilnehmern unserer Gestalttherapieausbildung auf einer imaginären Kreuzfahrt in einem Seminarraum in Köln wieder. Alle sind auffällig verkleidet, und es herrscht ein heilloses Durcheinander von verschiedenen Farben, Geräuschen und Kulissen. Ich beobachte, wie ein Priester aufgeregt mit dem Kapitän des Schiffes über die nicht mehr zu übersehende Schieflage des Hecks diskutiert, wie eine russische Diva in aller Ruhe Gassi mit dem zotteligen Schiffshund geht und flirte als Joint rauchender Hippie mit der heißen Aerobic-Schnecke von nebenan.
Was wir hier gerade umsetzen ist eine Szene des so genannten Stegreiftheaters – eine Theaterform bei welcher frei und spontan, ohne Dialogvorgaben, also „aus dem Stegreif“ gespielt wird. Therapeutische Relevanz hat das Stegreiftheater insofern, als dass Jakob Levy Moreno, ein Wiener Psychiater und Begründer der Gruppenpsychotherapie, auf dessen Grundlage im 20. Jahrhundert das so genannte „Psychodrama“ entwickelte, welches als kreative Methode unter anderem in der Gestalttherapie zum Einsatz kommen kann.
Im gruppentherapeutischen Setting dient das Psychodrama der Darstellung der gefühlten, gedachten, erinnerten oder antizipierten Erlebniswelt eines Menschen. Andere Gruppenmitglieder sind, wie auch im Stegreiftheater, Teil der Inszenierung und helfen, eine vom Klienten definierte, konkrete Szene nachzubilden. Dabei stellen sie entweder andere Personen oder auch abstrakte innere Anteile des Klienten (Angst, Widerstand, Scham etc.) spielerisch nach.
Verschiedene Interventionen, wie z.B. der Rollentausch zwischen dem Klienten und den Teilnehmern, können sodann im Laufe der Inszenierung seitens des Klienten ein vertieftes Verständnis seiner inneren oder äußeren Konflikte fördern. Indem dieser nun die Gelegenheit erhält, sich selbst und sein Verhalten aus der Distanz und mit den Augen des Gegenübers zu betrachten, können alte Strategien neu reflektiert, im Unterbewusstsein schlummernde Persönlichkeitsanteile sowie Handlungsalternativen aufgedeckt sowie das verfügbare Rollenrepertoire für die Bewältigung von Konflikten in der Realität erweitert werden.
Kein Wunder also, dass ich während der gerade beschriebenen Schiffszene plötzlich meinte, ein japanisch-kölsches Déjà Vu zu erleben. Zwar trug ich gerade keine dunkelblaue Schuluniform, sondern ein gebatiktes Flower-Power-Shirt. Zwar klangen gerade nicht Beethovens Klassik-Sinfonien, sondern Bob Marleys Reggae-Beats in meinen Ohren. Und die Blumenkette um meinen Hals erinnerte eher an fruchtige Cocktails und einsame Strände als an grünen Tee und buddhistische Tempelanlagen.
Doch der entscheidende Punkt war: ich war erneut im Begriff, mich ein kleines Stück weiter aus einer inneren Konstellation zu befreien, für die ich in Anlehnung an den Psychoanalytiker Klaus Ottomeyer sehr gern den Begriff „eingeklemmtes Leben“ verwende.
Auch wenn es uns in der Regel nicht bewusst ist: Die meisten von uns führen ein mehr oder weniger „eingeklemmtes“ Leben. „Eingeklemmt“ insofern, als dass wir von uns glauben „so, und nicht anders“ zu sein oder sein zu können.
Auf der Grundlage von Kindheitserfahrungen, Glaubenssätzen und sonstigen Prägung haben wir unsere “Lieblingsidentifikation“ ausgebildet und übersehen dabei, dass wir noch so viel mehr sein können als das. Wir sind entweder die eloquente Geschäftsfrau oder der rebellische Umweltaktivist. Der konservative Häuslebauer oder der kreative Freigeist. Häufig erlauben wir uns nicht, mutig andere Ufer zu betreten und schränken uns darüber selbst ein, unterwandern unsere eigene Lebendigkeit.
Doch eigentlich müssen wir das Ganze und uns selbst gar nicht so bierernst nehmen. Auch wenn es widersprüchlich scheint: Wir dürfen zu jeder Zeit Neues hinzufügen und Altes trotzdem beibehalten. Auch wenn wir es manchmal nicht glauben können, so dürfen wir uns vorurteilsfrei hinein entspannen in die große Vielfalt und Widersprüchlichkeit dieses Lebens. Dabei gilt: Probieren geht über Studieren. Und wenn ein Schritt gelungen ist: die Dankbarkeit dem Leben und uns selbst gegenüber nicht vergessen.
In diesem Sinne "Schiff Ahoi"!
Sylvia Morgenstern
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