Ozeanische Gedanken
Ich liebe es über alles auszuschlafen, doch heute, an einem klirrend kalten und windigen Sonntagmorgen, habe ich es tatsächlich geschafft, pünktlich vor Sonnenaufgang am Strand zu sein. Ich habe viel fotografiert in den letzten Wochen, wobei es mir besonders die Möwen angetan haben, die ich mit meiner Kamera bereits in allen erdenklichen Varianten eingefangen habe. Heute möchte ich mir das Spiel der Farben am Himmel in dem Moment, in dem sich die Sonne über den leicht verschleierten Horizont der Ostsee schiebt, auf keinen Fall entgehen lassen.
Angesichts der beißenden Kälte stehe ich noch etwas unentschlossen unterhalb der üppig mit Strandhafer bewachsenen Dünen. Es ist leicht dämmerig, und der Strand noch menschenleer. Nur in weiter Entfernung sehe ich, wie ein Fischer sein Boot ins schwarze, bewegte Nass hinein steuert. Dick eingepackt und ausgestattet mit Handschuhen, Schal und Strickmütze lasse ich zu, wie der eisige Wind heulend an mir vorbei peitscht. Mein Gesicht schmerzt. Im Versuch mich abzuwenden, fällt mein Blick nach unten. Geheimnisvoll glitzert der Frost aus der zurückliegenden Nacht im ockerfarbenen Sand und verleiht der Szenerie etwas eigentümlich Märchenhaftes.
Einen Fuß etwas mühsam vor den anderen setzend, nähere ich mich langsam dem weißen Saum des Wassers und beobachte, wie die Wellen immer wieder neue Grenzen zeichnen, sich emsig vorarbeiten in den braunen Sand, um sich sodann wieder scheu ins tiefe Blau zurück zu ziehen. Wie sie rhythmisch kommen und gehen. Wie sie rauschend werden, um sodann wieder zu vergehen. Ja, das Meer … es trägt etwas Existentielles in sich … denke ich.
In meine Erinnerung schaltet sich eine bereits viele Jahre zurückliegende Szene im Hause eines Psychiaters und Musiktherapeuten in Süddeutschland, den ich vor langer Zeit einmal in Nordindien kennengelernt hatte. In der Luft liegt der grasige Duft des Spätsommers und ich liege, eine rote Wolldecke über meinem Körper, mit geschlossenen Augen flach auf dem Boden.
An der Wand stehen mehrere Gongs, und nicht weit von ihnen entfernt befinden sich Tabla und Tanpura, sowie ein Monochord und ein Didgeridoo. Ich bin hier, um zusammen mit anderen Interessierten meine erste Erfahrung in Klangtrance zu machen. Diese setzt auf die therapeutische Wirkung archaischer Klänge, wie jene der gerade genannten obertonreichen Instrumente, welche in der Lage sein sollen, den Hörenden in Bewusstseinszustände fernab seines Alltagsbewusstseins zu versetzen.
Als „Tor zu einer anderen Welt“ wohnt hierbei dem Gong eine besonders stark transzendierende Kraft inne. Bereits im antiken Griechenland sowie später im asiatischen Raum wurde er unter anderem im Rahmen von Zeremonien (zum Beispiel zu Geburt, Hochzeit oder Tod) eingesetzt, und auch heute noch begleitet er viele Menschen kraftvoll hinüber in eine neue Wirklichkeit.
Die Sonne blickt freundlich durch’s Fenster links neben mir, doch ich fröstele ein wenig und ziehe mir die rote Wolldecke bis unter‘s Kinn. Zaghaft beginnt der Gong, seine ersten Klänge zu uns in den Raum zu schicken. Es sind warme, sanfte Schläge die mich freundlich willkommen heißen in dieser für mich so neuen akustischen Welt, während sich in die kleinen Pausen zwischen ihnen friedvolle Ruhe legt, die zum Entspannen und Tagträumen einlädt.
Vor mein geistiges Auge spült sich die Erinnerung an den Blick auf die Wasseroberfläche des tiefblauen Atlantiks während meines zurückliegenden Urlaubes auf Madeira. Der unerreichbar weit entfernte Horizont verschwamm damals mit dem azurblauen Himmel in einer Weise, die es mir trotz aller Bemühungen unmöglich machte, “Himmel und Erde” voneinander zu unterscheiden. Ich erinnere mich gern an diesen besonderen Moment, in dem ich Gedanken versunken da stand und sich mein Blick voller Hingabe an die Schönheit unseres Planeten in der Unendlichkeit des Ozeans verlor.
So hätte ich noch ewig verweilen können, doch nach der Ruhe folgt bekanntlich der Sturm, und so ist es schon bald vorbei mit der traumseligen Gemütlichkeit. Denn bevor ich mich weiter meinen Erinnerungen hingeben kann, holt mich die mittlerweile bedrohlich schwingende Metallscheibe von der nicht unwesentlichen Größe eines kleinen Trampolins mit lautem Schlag unsanft in die Gegenwart zurück - ganz so, als sei sie verärgert über meinen unbeabsichtigt heimlichen Ausflug auf die Insel der Blumen und Levadas.
Der Gong ist in meiner Abwesenheit deutlich lauter, seine Energie merklich fordernder geworden. Immer schneller folgt nun Schlag auf Schlag. Wie eine riesige Dampfwalze überrollt mich Schwingung um Schwingung, Vibration um Vibration. Ich nehme Obertöne wahr, Frequenzen überlagern sich - es dröhnt in meinen Ohren. Jede Zelle meines Körpers ist plötzlich in Alarmbereitschaft.
Auch wenn ich es gerade noch sehr viel angenehmer fand, hingebungsvoll auf Madeira herumzustehen, bin ich nun zumindest erleichtert zu registrieren, dass sich mein Nervensystem in der sich gerade immer deutlicher abzeichnenden Stresssituation offenbar ziemlich gut an sein steinzeitliches Dasein erinnert und genau weiß, was zu tun ist.
Kampf und Flucht scheiden als Handlungsoptionen ziemlich klar aus - immerhin bin ich ja freiwillig hier. Also fällt die Entscheidung auf „Totstellen“ - „Freeze“ lautet von nun an die Devise. Meine Arme, Beine, Hände, mein Nacken - sind bald vollkommen erstarrt in dem Versuch, was auch immer da jetzt kommen mag, möglichst ohne größere Blessuren und ganz so, „als wäre ich gar nicht da“ mit zusammengebissenen Zähnen über mich ergehen zu lassen.
Doch all meine Bemühungen können nichts ausrichten gegen die immense Wucht, mit welcher der nächste Schlag nun wie ein heroischer Tsunami über mich hereinbricht. Seine Energie nimmt mich mit, kompromisslos ergreift sie meinen Körper und reißt mich tief hinab in den schäumenden schwarzen Schlund des blechern durchwühlten Ozeans, welcher sich urplötzlich hier mitten in Süddeutschland im Kellergeschoss meines Bekannten unter mir aufzutun scheint.
Die nächsten Minuten unter Wasser gleichen einer Achterbahnfahrt auf der eigenartig gedämpften Tonspur einer Heavy Metal Schallplatte, der ich absolut nichts entgegen zu setzen habe. Mein Körper versucht zwar weiterhin tapfer, dem Quietschen und Pfeifen, Scheppern und Dröhnen Widerstand entgegen zu setzen. Doch schon einige Umrundungen später wird klar, dass dieses Unterfangen zwecklos scheint, wenn ich doch noch irgendwie heile aus der Nummer herauskommen will.
Ähnlich einem Beifahrer auf dem Soziussitz eines Motorrades komme ich wohl nicht drum herum, einen Strategiewechsel in Betracht zu ziehen und mich dem Moment im “Hier und Jetzt“ hinzugeben, genauso-wie-er-gerade-ist. Ohne Widerstand, ohne Zweifel, ohne Angst. Ich versuche also, Millimeter für Millimeter, Sekunde für Sekunde loszulassen. Loszulassen von meinem Anspruch, die Kontrolle behalten zu müssen. Loszulassen von meiner Vorstellung darüber, wie mein Erleben zu sein habe. Loszulassen von meiner ganz persönlichen Illusion von der Welt.
Und dann, im entscheidenden Moment des Annehmens dessen, was nicht zu ändern ist, begegnet es mir erneut: das Gefühl der Hingabe. Hingabe an das Element unseres Lebens, welches mich gerade nicht nur verschlungen, sondern das Leben auf der Erde vor rund 3,5 Milliarden Jahren sowie mich selbst vor 35 Jahren geboren hat.
Sieben Jahre später schickt die Sonne ihre ersten warmen Strahlen über den noch immer verschleierten Horizont der Ostsee. Der Wind hat nachgelassen. Ergriffen blicke ich in den Himmel und sehe eine Möwe über dem Wasser kreisen. Ich drücke den Auslöser meiner Kamera.
Ein neuer Tag beginnt.
Sylvia Morgenstern
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