Hochsensibel: Endlich voll normal!
„Ich bin nicht zu sensibel. Ich fühle einfach mehr als Du.“
Diese beiden Sätze las ich letztens auf dem Rucksack eines jungen Mannes in der S-Bahn. Und wisst Ihr was? Ich hätte tanzen können vor Glück - so habe ich mich über dieses öffentliche Statement in Sachen „Gefühl“ gefreut. Denn wer selbst betroffen ist, versteht: Was hier so beiläufig auf einem unscheinbaren Alltagsgegenstand zum Ausdruck kommt, berührt ein lange Zeit unbekanntes, und nun immer häufiger öffentlich diskutiertes Thema: „Hochsensibilität“. Grund genug, um mal wieder einen Blog-Artikel zu schreiben, dachte ich mir, denn:
Auch ich bin hochsensibel.
Was versteht man unter Hochsensibilität?
Erstmals aufgebracht wurde das Phänomen im Jahr 1996, also bereits vor 25 Jahren, von der US-Psychologin Elaine Aron. Ihrer Beobachtung zufolge gibt es offenbar gar nicht so wenige Menschen, die auf der Grundlage eines überdurchschnittlich empfindlichen Nervensystems sowohl äußere als auch innere Reize in größerer Bandbreite, Intensität, Detailtreue und Tiefe wahrnehmen als der Großteil der Bevölkerung.
Hochsensibilität kann sich dabei individuell sehr vielfältig äußern und wahrscheinlich gibt es ebenso viele verschiedene Mischformen wie Merkmalsträger. Die Reize und die mit ihnen verbundenen, hier beispielhaft genannten Wesensmerkmale können dabei folgendermaßen unterteilt werden:
Emotionale Reize: tiefes Fühlen, stark ausgeprägte Intuition, hohe Empathie, intensives Mitschwingen mit anderen Menschen sowie der Natur, langer emotionaler Nachhall des Erlebten
Kognitive Reize: hohes Reflexionsvermögen, stark vernetztes und komplexes Denken, Vorliebe für das Entwerfen von Gedankenmodellen, leidenschaftliches Lernen, „Gespür für Logik”
Sensorische Reize: hohe Geräuschempfindlichkeit, Vorliebe für geordnete visuelle Strukturen, künstlerisches Talent, ausgeprägter Sinn für Ästhetik, Details, Schönheit und Vollkommenheit, häufig auch synästhetische Wahrnehmungen
Sicherlich werden sich in Teilen dieser Beschreibung auch normalsensible Menschen wiederfinden, und doch scheinen die genannten und weitere Merkmale bei hochsensiblen Menschen vergleichsweise stark sowie in mehreren Bereichen gleichzeitig ausgeprägt zu sein. Man vermutet unter anderem, dass bei ihnen der reizselektierende Teil des Gehirns - der Thalamus - „durchlässiger“ für Informationen ist, und es somit zu weniger Übertragungsverlusten bei der neuronalen Datenübermittlung kommt. Die Folge ist, dass Betroffene in vielen Lebenslagen mit einer besonders hohen Flut an Informationen konfrontiert werden, die sie nicht einfach mittels ihres Verstandes ausblenden können.
Als weitere Ursache für Hochsensibilität kommen laut derzeitigem Stand zudem zurückliegende Traumata in Betracht, welche zu einer veränderten Reiztoleranz führen können.
Und was bedeutet das für den Alltag?
Für Hochsensible hat ihre Veranlagung weitreichende positive sowie negative Folgen. Stärken unter anderem in den Bereichen Führungsverhalten, Kreativität, Vorausschau und Zuverlässigkeit sowie der glücklichen Gabe, ein besonders intensives, buntes und vielfältiges Leben zu führen, können beispielsweise eine ungleich höhere Stressanfälligkeit, rasche Ermüdbarkeit sowie besondere Vulnerabilität gegenüberstehen.
Wichtig zu verstehen ist dabei allerdings: bei Hochsensibilität handelt es sich nicht um eine per se therapiebedürftige Erkrankung oder psychische Störung. Sollte der Hochsensibilität eine Traumatisierung zugrunde liegen, ist eine traumatherapeutische Behandlung jedoch natürlich in jedem Falle wichtig und sinnvoll.
Ganz allgemein aber sollten Hochsensible ein ganz besonders starkes Augenmerk auf das Thema Selbstfürsorge legen. Achtsam sein mit sich selbst, Ressourcen und Kräfte sorgsam einteilen, stimmige Strategien für den Alltag finden, generell eine gute Psychohygiene sowie ausreichend Schlaf sind zwar sicherlich nicht nur für die Gesundheit von Hochsensiblen entscheidend. Doch wird Hochsensiblen ihre Veranlagung besonders dann schnell zum Fallstrick, wenn sie ihre eigene Reizempfindlichkeit nicht als solche erkennen, reflektieren und entsprechend in ihren Alltag integrieren können.
Hochsensibel: Endlich voll normal!
In den Jahren nach 1996 verhielt sich die Forschung zunächst eher zurückhaltend. Doch was noch vor 10-15 Jahren undenkbar schien, geschieht seit jüngster Vergangenheit immer häufiger: neueste wissenschaftliche Erkenntnisse werden diskutiert, immer mehr Aufklärungsarbeit betrieben. Medien nehmen Hochsensibilität zunehmend in ihr Programm auf. Podcasts, Blogs und Interviews zum Thema schießen aus dem Boden. Hochsensibilität ist, und das nicht nur als beiläufiger Slogan auf Männerrucksäcken, auf dem besten Weg, „voll normal“ zu werden.
Einen entscheidenden Beitrag hierzu leistet vermutlich auch die allgemein in unserer Gesellschaft gewachsene Offenheit gegenüber psychologischen Fragestellungen. Spätestens seit Beginn der Corona-Krise haben die ersten - wenn auch sicherlich längst nicht alle - Unternehmen erkannt, dass die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter dringend auf die Agenda ihrer Schulungsangebote gehört. Angesichts der derzeit besonderen Lebensumstände unter dem Vorzeichen von Kontaktbeschränkungen, Remote Work und Home Schooling sorgen wir uns um überlastete Mütter und Väter, um isolierte Senioren und Singles, und um das gestiegene Gewaltpotential in Familien.
Gefühlt ist die Welt nach dem „Höher - Schneller - Weiter“ unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft in Verbindung mit Glaubenssätzen der Kindheit wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, zumindest derzeit ein wenig offener geworden für einen Perspektivwechsel, den wir höchstwahrscheinlich brauchen werden, um uns als Gemeinschaft auf nachhaltige und ausgewogene Weise weiterzuentwickeln.
Dies erfordert gleichzeitig, dass wir immer wieder bereit sind, uns neu zu entdecken und zu hinterfragen, sowie uns bewusst unseren Gefühlen und Bedürfnissen zuzuwenden. Je nach individueller Lebenslage ist dies sicherlich nicht für jeden Einzelnen gleich einfach. Persönliche Umstände, ein Mangel an inneren oder äußeren Ressourcen oder auch die verständliche Angst vor der Begegnung mit sich selbst, können unserer Innenschau entgegenstehen. All dies gilt es zu respektieren.
Ich für meinen Teil hab allerdings immer wieder richtig “Bock“ darauf, denn es gibt für mich einfach nichts Schöneres als zu erkennen, “was da gerade los ist” unter meiner Oberfläche. Denn es ist das „Fühlen“ und nicht das “Müssen“ oder “Haben”, worum es wirklich geht im „Sein“.
Ganz egal ob normal- oder hochsensibel.
Sylvia Morgenstern
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